Als Antwort auf die Frage - Wie codiert unser Gehirn Gedanken und Erinnerungen? - verweist Christian Doeller in einem Gespräch mit Anna von Hopfgarten (Spektrum-Online, 30.10.2024) "auf ein an anderer Stelle bewährtes System: jenes zur räumlichen Orientierung, die so genannte Hippocampusformation." Ergänzend führt Doeller (hier kurz zusammengefasst) weiter aus:
Die Hippocampusformation ist offenbar nicht nur entscheidend für das Gedächtnis, sondern auch für die Funktion des körpereigenen Navigationssystems, in dem verschiedene Zellen ganz unterschiedliche Aufgaben übernehmen. So zum Beispiel 'Ortszellen', die der Brite John O'Keefe 1971 entdeckte, die die eigene Position im Raum signalisieren. Ein weiterer Zelltyp, die sogenannten 'Gitterzellen', codieren die Struktur der Umgebung, indem sie zusammen ein hexagonales Gittermuster ergeben. Sie repräsentieren eine Art Metrik der Umgebung, mit ihrer Hilfe lassen sich Distanzen messen und die eigene Orientierung im Raum feststellen. Unterstützt werden sie dabei von weiteren Zellen, die bei der Bewegung im Raum von Bedeutung sind. So etwa die 'Kompasszellen', sie zeigen die Richtung in die der Kopf gedreht ist und auch die Laufrichtung, an. 'Geschwindigkeitszellen' codieren die Laufgeschwindigkeit und 'Grenzzellen' geben die Distanz an, in welcher räumlichen Position wir uns relativ zu Objekten in unserer Umgebung befinden. Alle zusammen bilden das Navigationssystem des Gehirns, das eine interne kognitive Karte erzeugt.
Aktuelle Forschungen in den Kognitions-und Neurowissenschaften (u. a. am Max-Planck-Institut in Leipzig) gehen davon aus, dass das Orts- und Gitterzellsystem im Hippocampus auch für andere kognitive Aufgaben von Bedeutung ist. Beim Konzeptlernen beispielsweise, wenn wir Dinge anhand gemeinsamer Eigenschaften gedanklich in Klassen oder Konzepte zusammenfassen. Offenbar nutzt das Gehirn dafür ebenfalls eine räumliche Codierung, so dass man auch hier von »kognitiven Räumen« sprechen kann. Der innere Kompass dient quasi als Blaupause für höhere kognitive Funktionen. So haben Studien gezeigt, dass das Gehirn auch soziale Beziehungen in kognitiven Karten codiert.
Christian Doeller I promovierte über die neurowissenschaftlichen Grundlagen des Lernens und forschte anschließend am University College London mit John O'Keefe am Ortszellsystem von Nagetieren. 2010 wurde er zum Associate Professor am Donders Institute for Brain, Cognition and Behaviour im niederländischen Nimwegen berufen. Seit 2016 ist er Professor für Neurowissenschaften am Kalvi Institute for Systems Neuroscience in Trondheim, das von den Nobelpreisträgern May-Britt und Edvard Moser gegründet wurde. 2018 wurde Doeller zudem Direktor der Abteilung für Psychologie am Max-Planck- lnstitut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig und seit 2019 ist er Professor für Psychologie an der Universität Leipzig. 2023 wurde er zum Vizepräsidenten der Max-Planck-Gesellschaft ernannt.