Die Gosvenor School wurde vom ehemaligen Direktor einer der ältesten unabhängigen Kunstschulen Londons, der Heatherley School of Fine Art, auch bekannt als Heatherley's, Ian Mcnab (1890-1967) gegründet. Er selbst arbeitete im Bereich der Grafik mit der Holzschnitttechnik. Im Jahr 1926 stellte er einen ehemaligen Schüler von Heatherley's ein, Claude Flight (1881-1955), der die Technik des Linolschnitts unterrichtete. Die Schüler*innen, die die Schule besuchten, blieben meist nicht lange und trugen ihr erworbenes Wissen und ihre Erfahrungen in die Welt hinaus.
Eine dieser Schülerinnen war die Schweizer Künstlerin Lill Tschudi (1911-2004), die im Dezember 1929 in die Gosvenor School in London eintrat und sie nach nur sechs Monaten, Ende Mai 1930 wieder verließ. Ihr Lehrer und Mentor Claude Flight blieb bis zu seinem Tod im Jahr 1955 ein langjähriger Freund und Förderer ihrer Arbeit. Über ihren Aufenthalt an der Schule ist nur sehr wenig bekannt. Sie beschreibt ihre Zeit dort als "Privatunterricht mit Schwerpunkt auf farbigen Linolschnitten bei Claude Flight in London"1. Die Künstler*innen der Gosvenor School ließen sich vom alltäglichen Leben, vom Jahrmarkt und dem Zirkus, von Theateraufführungen und Konzerten und selbst von Sportveranstaltungen inspirieren, an denen Menschen aus unterschiedlichen wirtschaftlichen, politischen, sozialen und kulturellen Schichten teilnahmen. Aus der Zuschauerperspektive hielten die Studierenden die Geschwindigkeit, Modernität und Kraft der neu erfundenen technischen Errungenschaften sowie die Dynamik, Freude und Ausgelassenheit des modernen Lebens fest. Und es ist genau das Abbilden dieser Dynamik, das den Stil und die Technik des Linolschnitts dieser Zeit so unverkennbar und eindrucksvoll macht.
Auch wenn Tschudi die meiste Zeit ihres Lebens in ihrem Schweizer Heimatort Schwanden im Kanton Glarus arbeitete, war ihre Motiv- und Themenwahl breit gefächert und oft unerwartet. So hält zum Beispiel der Zweifarbendruck "Street Decoration", 1937 die Feierlichkeiten anlässlich des Silberjubiläums von König Georg V. fest, an welchen sie bei ihrem Besuch in London 1935 sicher teilgenommen hat. "Schiffe in Venedig", ein 1951 entstandener vierfarbiger Linolschnitt wurde wahrscheinlich von einer ihrer häufigen Europareisen mit ihrer Familie inspiriert. Einer ihrer am häufigsten ausgestellten Drucke, "Telephonmonteure" von 1932 wurde schließlich in Flight's bahnbrechendes Buch über die Technik des Linolschnitts "The art and craft of lino cutting and printing" aufgenommen. Das 1934 erschiene Buch illustriert den Prozess des Druckens eines mehrfarbigen Linolschnitts auf einer Doppelseite. Tschudi experimentierte außerdem mit Entwürfen für Werbung, Kinderbuchillustrationen, Exlibris, Geburtstags- und Hochzeitsanzeigen sowie Motiven für Postkarten. In ihrem Heimatland Schweiz weitgehend unbekannt, wurden ihre Werke in zahlreichen Ausstellungen in Großbritannien, den Vereinigten Staaten und Australien gezeigt. Eine recht große Anzahl ihrer Werke befindet sich in der Sammlung des Metropolitan Museum of Art in New York.
1 Nachlass Tschudi, SIK Zürich